Alte Sorten

Wie vielfältig sind eigentlich "alte Sorten"?

Diese so einfach klingende Frage hat gleich mehrere Dimensionen. Machen wir uns zunächst einmal klar, was wir unter „alten Sorten“ verstehen wollen. Dafür eine Definition zu finden ist gar nicht mal so einfach, denn wie wir alle wissen, ist das „Alter“ relativ, ein beliebig dehnbarer Begriff. Nicht viel anders steht es um den Begriff „Sorte“, der etwas mit Sortierung zu tun hat, mit Selektion und mit Auslese. Dafür werden im Industriezeitalter Maschinen benutzt, die völlig frei von subjektiven Empfindungen und möglichen Fehlern nur klare ja/nein-Entscheidungen treffen. Sie kennen im Unterschied zu uns Menschen kein „vielleicht“, kein „besonders aussichtsreich“, kein „interessante Abweichung, unbedingt weiter verfolgen“.

Damit ist schon fast alles gesagt, denn jeder x-beliebige Mensch wird eine andere Auswahl treffen aus hundert gesunden, optisch zwar ähnlichen, aber unterscheidbaren Pflanzen einer samenfesten Sorte, sollte er ein Dutzend auszuwählen müssen, um sie in die nächste Generation weiterzuführen.

In zwei bis drei Jahren steht die nächste Entscheidung an, dann vielleicht in 5 bis 6 Jahren eine weitere, wenn Pflanzen aus dem Restsaatgut der ersten Vermehrung mit jenen aus der frischen Saat des zweiten Anbaus miteinander verglichen werden können. Gibt es Unterschiede in der Vitalität und im Aussehen, im Geschmack? Haben sich vielleicht unerwünschte Kreuzungen ereignet?

Setzen wir dieses Gedankenexperiment über Jahrzehnte mit anfangs beispielsweise 5.000 Personen fort – mit so vielen Teilnehmer*innen rechnen wir in der Black-Turtle-Community, werden die meisten eurer Enkel und Urenkel wohl entweder gar nicht mehr oder nur mit leeren Händen kommen.

Doch die wenigen, die unabhängig voneinander die Sache kontinuierlich weiter betrieben haben, die sich immer noch für die Rein-Erhaltung dieser einen Sorte verantwortlich fühlen, die werden über erstaunliche Unterschiede berichten können: Sie werden optimale Überwinterungstechniken vorstellen wollen, neue, interessante Gerichte präsentieren und so aus jedem dieser selten stattfindenden Treffen spannende Ideen und Anregungen mitnehmen.

Möglicherweise fragen sie besonders Engagierte, Erfolgreiche, Wortgewandte, ob sie nicht ein paar Korn von deren Saat bekommen könnten, um die eigene aufzubessern. Oder es sind Wiedereinsteiger, die vorhaben, die verlorene urgroßelterliche Sorte kennen und verwenden zu lernen. Wieder andere möchten einfach noch einmal ganz von vorn beginnen: Die eigene und die Arbeit früherer Generationen zu verwerfen ist weniger schmerzlich, wenn man im Austausch qualitativ hochwertigeres Saatgut und außerdem Know-How erwerben kann.

© Laura Droße

Verlegen wir unser in die Zukunft gerichtetes Gedankenexperiment nun einmal für mehrere tausend Jahre in die Vergangenheit! Damals gab es an den Ostküsten des Atlantiks und des Mittelmeers verstreute Vorkommen von Wildkohl, die teils auch unzugängliche Gebirgslagen der Inseln und des Festlands besiedelten. Nur dort entgingen sie den nimmersatten, klettergewandten Ziegen, konnten blühen und fruchten. Mehrere der zahlreichen Wildkohl-Unterarten haben Bauern als primitives Blattgemüse vielerorts in ihre Gärten geholt, in Kultur genommen. Zur Erinnerung: Das war ganz am Anfang, als es schlicht noch nichts Besseres gab.

Heute beginnen wir gerade einmal etwas von dem langwierigen Prozess der Anpassung zu erahnen, den die einstigen, noch heute an den gleichen Wuchsorten anzutreffenden Wildpflanzen an die Bedürfnisse der vielen züchterisch begabten Menschen durchlaufen haben. Winzig kleine Fortschritte wurden von Rückschlägen abgelöst. Es gab und gibt bis heute immer wieder Kreuzungen mit anderen Nutzungsrichtungen, mit Sorten, die der Nachbar gleichzeitig vermehrt, aber auch mit in der Nähe blühenden Wildpflanzen der gleichen Art.

Im Endeffekt verwenden wir heute Kohlgemüse, die zahllose Generationen talentierter Bauern und Gärtner vor ihrem inneren Auge in diesen Wildpflanzen bereits als Urbilder gesehen haben: einen Strauch-, Futter- oder einen Blattkohl, einen Markstamm-, Braun- oder Grünkohl, einen Kohlrabi, einen Kopf-, Rippen-, Rosen-, Blumenkohl oder einen Brokkoli. Auffallend blasige Blätter haben nur Palm- und Wirsingkohl. Welche der beiden Nutzungsrichtungen mag wohl die jüngere sein? Kreuzt man einen Rot- oder einen Weiß- mit einem Palmkohl, bekommt man immerhin rötliche oder grüne wirsingkohlähnliche Pflanzen mit sehr zarten, lockere Köpfe bildenden Blättern.

Saatgut wurde von Menschen stets getauscht und bei Wanderungen mitgenommen. Die extrem plastische Art „Gemüsekohl“ ist allein schon deswegen, weil sie so lange im Dienste des Menschen steht, inzwischen fast überall auf dem Planeten anzutreffen, wo Landwirtschaft und Gartenbau, mindestens aber Gemüsehandel betrieben werden. Den als Weihnachtsessen so beliebten Rippen- oder Tronchudakohl gab es ursprünglich nur in Portugal. Heute wächst er überall dort auf der Welt, wo sich Portugiesen niedergelassen haben, so auch in Brasilien. Seine fleischig verdickten weißen Blattrippen ergeben z.B. zusammen mit zerkleinerten Fischfilets und mit Käse überbacken einen phantastisch schmeckenden Auflauf, die in schmale Streifen geschnittenen grünen Blätter eine feine Einlage für die delikate Vorsuppe. Der Palmkohl hingegen ist in Italien entstanden und mit den Italienern gewandert, über die Alpen und über die Meere.

Schon früh stand er auch in Deutschland auf dem Tisch, z.B. auf der kaiserlichen Tafel Wilhelm I., etwa 1871, vielleicht auch schon früher. Dann geriet er für Jahrzehnte vollkommen in Vergessenheit. In den 1980er Jahren taucht der Palmkohl plötzlich wieder auf, diesmal zunächst als Zierpflanze, bis man seinen kulinarischen Wert wiederentdeckte. Es dauerte dann noch einmal fast 30 Jahre, bis neben der alten, hochwachsenden Sorte ‘Negro Romano‘ neue, auch niedriger bleibende, rötlich gefärbte und vor allem winterhärtere Sorten auftauchten, während ‘Negro Romano‘ unauffällig aus den Regalen der Samenhandlungen verschwand. Oder wurde er nur in ‘Cavolo nero di Toscana‘ bzw. kurz ‘Nero di Toscana‘ umbenannt? Aber Vorsicht! Im Vergleichsanbau stellt sich heraus, dass letzterer kürzere Strünke hat, also nicht mehr ganz so hoch wird.

Gemüsekohl als Zierpflanze gibt es natürlich auch. Die auf alten Abbildungen dargestellten fein geschlitzten, vielfarbigen Federkohle sind leider verloren gegangen. In den Rabatten und Grünanlagen der Städte wird heute statt ihrer der Braunkohl zwischen Stauden und Sommerblumen gepflanzt; das sind kräftig rotbraun bis violett gefärbte, fein gekrauste Grünkohle. Die stattlichen, appetitlich aussehenden Pflanzen stehen dort bis in den Winter hinein, werden aber kaum jemals gegessen.

In Deutschland fast überall aus der Küche verdrängt, wird der Braunkohl in Russland nach wie vor gern als deftiges Wintergemüse aufgetischt, beispielsweise die Sorte ‘Krasnaja Kurcavaja Vysokaja‘ – „Roter Krauser Hoher“ könnte man den sperrigen Namen übersetzen. ‘Redbor‘ klingt da doch viel einprägsamer, nicht wahr? Und wenn dann noch f1 auf der Verpackung steht, es sich offenbar um eine nicht nachbaufähige Hybridsorte handelt, ist das natürlich etwas ganz Anderes – bis man beide Sorten nebeneinanderstehen sieht und sie miteinander vergleichen kann.

Doch es gibt auch noch ganz andere Zierkohle. Vielleicht hatten ursprünglich Chinesen oder Japaner die Idee, niedrige Kopf- und Krauskohl-Sorten miteinander zu kreuzen. Dabei kamen dann die bekannten farbenprächtigen lockerkopfigen Kohle mit krausen Blatträndern heraus, die in jedem Herbst vielerorts als Dekoration verwendet werden. Eine alte deutsche Sorte mit gelbgrünem Laub zeigt exakt dieselben Merkmale: ‘Halbhoher Moosbacher Winter Hellgrüner‘, ein Blätterkohl, der wegen seiner Zartheit und Empfindlichkeit sicher stets ein ganz besonderes Gemüse war. Heute sucht man ihn auf den Märkten vergebens, nicht nur im Oberpfälzer Moosbach, nahe der tschechischen Grenze. Auch, wer an einen Rechtschreibfehler glaubt und im Badischen Mosbach nachfragt, zwischen Heidelberg und Heilbronn gelegen, wird enttäuscht. Mit den regionalen Märkten sterben eben auch die Regionalsorten, wenn ihnen nicht der Sprung in die überregionale, besser noch in die globale Vermarktung gelingt. Je weniger Entscheidungsträger an den Prozessen beteiligt sind und je geringer deren Sortenkenntnis ist, desto mehr Vielfalt geht verloren, lautet das ungeschönte Resümee.

Was hier am Beispiel des Gemüsekohls, der vielgestaltigsten Kulturpflanzenart, die die Menschheit bisher geprägt hat, aufgezeigt werden konnte, betrifft auch alle anderen, weniger variablen Kulturpflanzen auf der Arten- wie auf der Sortenebene. Seit Jahrzehnten wird stereotyp die Schätzung wiederholt, nach der bereits 75 % unseres lebenden kulturellen Erbes, vor allem die Vielfalt der traditionellen Land-, Haus- und Hofsorten ausgestorben und verloren gegangen sei. Die Zahl dürfte viel zu niedrig angesetzt worden sein. Das liegt unter anderem daran, dass die natürlichen Verbreitungsgebiete der Wildpflanzen, der wilden Ausgangsarten unserer Kulturpflanzen, in dem Maße schrumpfen, wie wir Menschen immer mehr dieser Flächen für unsere landwirtschaftlichen Kulturen verbrauchen, für den Siedlungsbau, für Sport- und Erholungs-, Gewerbe- und Verkehrsflächen, für die die Erschließung und den Abbau von Rohstoffen sowie für die Anlage von Deponien.

Hätten die verbliebenen Restbestände der Wildarten und der einstigen Kulturpflanzenvielfalt, hätten die vielen Gärtner und Landwirte ab heute noch einmal 10.000 Jahre Zeit, die gesamte aufgezeigte Entwicklung zu durchlaufen, es bliebe höchst fraglich, ob die gesamte Bandbreite der Varianten noch einmal entstehen könnte. Gäbe es dann womöglich nochmals ein Zeitalter der Wildpflanzen, ein Zeitalter der Landsorten, ein Zeitalter der globalen Enteignung und Entfremdung von den elementaren Lebensgrundlagen? Hätten wir nichts dazugelernt?

Heute sind wir Menschen technisch in der Lage, die langwierigen Prozesse der Entstehung neuer Vielfalt abzukürzen. Das Arsenal der Methoden ist reich und wird immer noch erweitert. Die Hochzuchten, die Kreuzungs- und Hybridzüchtung, strahleninduzierte oder chemisch verursachte Mutationen, die zahllosen Spielarten der Gentechnik, die Vermehrung oder Amplifikation synthetischer Sequenzen der Desoxyribonukleinsäure oder gar die Chemosynthese ganzer Chromosomen – die Erschaffung künstlichen Lebens scheint in greifbarer Nähe gerückt zu sein. Wenn dieser uralte Traum der Menschheit wahr würde, könnte er sich möglicherweise, würde er sich mit Sicherheit als Albtraum für uns ewige Zauberlehrlinge erweisen.

© Laura Droße

Doch noch einmal kurz zurück zum Anfang. Längst nicht alle Gedanken zu dem Thema finden hier Platz. Nehmen wir nur das sehr unterschiedliche Lebensalter der Pflanzen, fällt uns auf, dass die meisten Getreide und Gemüse ein- oder zweijährige Arten sind. Weit weniger Gemüse sind ausdauernd, wie beispielsweise Rhabarber, Spargel und die Perlzwiebel.

Wie will man das Alter der alljährlich über Saatgut vermehrten Feldsalat-Sorten mit dem Alter von Sorten der Baumobstarten vergleichen, mit Apfel-, Birnen-, Kirsch- und Pflaumensorten beispielsweise, die es teils seit Jahrhunderten unverändert aus vegetativer Vermehrung gibt? Was den Verlust der Sortenvielfalt generativ, über Samen vermehrter Arten betrifft, finden wir dazu ein historisches Pendant innerhalb der Sorten: Landsorten konnten in der Vergangenheit mehrere Arten enthalten, nicht gelegentlich und aus Versehen, aus Unachtsamkeit, sondern historisch gewachsen und leidvoller Erfahrung geschuldet: Man möchte meinen, die Mischung sei strategisch durchdacht und planvoll umgesetzt, um die Ernährungssicherheit zu gewährleisten.

Das bekannteste Beispiel hierfür finden wir bei den Getreiden. Ein Feldbestand konnte mehrere Weizen-Arten, mehrere Varietäten einer dieser Weizen-Arten, aber z.B. auch Roggen enthalten, von den essbaren Ackerunkräutern ganz zu schweigen. In trockenen Jahren überwog bei der Ernte der Weizenanteil, in feuchten jener des Roggens. Mit den Nachbarn wurden Saatgut-Partien getauscht und den eigenen Sorten zugemischt. Die Handauslese besonderer Ähren ist auch keine Erfindung der Neuzeit. Erst die Pflanzenzüchtung im Zusammenspiel mit der Industrie hat ein lebhaftes Interesse daran, die Sorten immer stärker zu vereinheitlichen und Eigentumsrechte daran zu erwerben. Die Bestände wurden immer homogener, maschinengerechter in der Aussaat, Ernte und Verarbeitung, wobei das Risiko der Erntesicherheit trotz Düngung, künstlicher Bewässerung etc. mit jeder Entwicklungsstufe zunimmt. Davor die Augen zu verschließen, darf für lebensgefährlich gehalten werden.

Obwohl wir noch immer ganz am Anfang der Betrachtung stehen, möchten wir für die eingangs angekündigte Definition „alter Sorten“ wenigstens einen Vorschlag zur Diskussion stellen und eine Abgrenzung zu den „neuen“ oder „modernen Sorten“ versuchen. Hier sind unsere Text-Versionen, die gern kommentiert werden dürfen.

„Alt“ und „Sorte“ sind ebenso unscharfe Begriffe wie z.B. „Region“. Dennoch spricht man von Haus- und Hofsorten, Lokal- und Regionalsorten, tradierten, traditionellen Sorten und Land-Sorten, insgesamt bäuerlich-gärtnerisches lebendiges Kulturgut.
Im Gegensatz zu homogenen, „modernen Zuchtsorten“ sind sie meist heterogen: Landsorten können Arten- und Sorten-Mischungen sein, aber auch Kreuzungen von Sorten und den Ausgangs-Arten beinhalten.
Durch individuelle bäuerliche oder gärtnerische Selektion wird ein sehr dynamischer Prozess begleitet, der innerartliche Vielfalt „spontan“ entstehen lässt, die nicht auf absichtliche Kreuzungen zurückgeht. Erhalter- und Amateursorten tragen ebenfalls zur Vielfalt bei. Letztere beinhalten auch Neuzüchtungen auf der Basis „alter“ Sorten.

Um als Saatgut gehandelt werden zu können, müssen Sorten behördlich registriert sein und sich dafür in mindestens einem Merkmal von allen anderen zugelassenen Sorten unterscheiden. Zuchtsorten werden nach den DUS-Kriterien (distinctness, uniformity, stability - Unterscheidbarkeit, Einheitlichkeit, Stabilität) und bei landwirtschaftlichen Arten zusätzlich nach dem landeskulturellen Wert (= höherer Ertrag als die Vorgänger-Sorten) vom Bundessortenamt zugelassen. Das Saatgut dieser Sorten kann dann im Unterschied zu nicht angemeldeten „alten Sorten“ legal gehandelt werden (Handelssorten).

Aktuell überwiegt bei vielen Kulturarten der Hybrid-Anteil bei den Zulassungen. Die immer gleiche Kreuzung streng homozygoter Inzucht-Linien als Eltern erfüllt höchste Ansprüche an Einheitlichkeit und Stabilität.

Samenfeste Sorten sind grundsätzlich heterogener, also weniger einheitlich und stabil.
Sie werden z.B. durch erhaltungszüchterische Bearbeitung ständig „verbessert“, ausgelesen, in Zuchtstämme aufgeteilt und ggf. als „neue“ oder „verbesserte Sorten“ zugelassen. Spätestens mit der Neuzulassung eines Zucht-Stammes als „neue Sorte“ gilt die bisherige Sorte als „veraltet“. In Vergleichsanbauten lassen sich mehrere offen abblühende, samenfeste Sorten gleichen Namens z.T. voneinander unterscheiden, wenn sie aus der Hand mehrerer Züchtungs- und Vermehrungs-Betriebe oder aus unterschiedlichen Reproduktionsjahren stammen. Der Sortentyp bleibt aber stets erkennbar.

Die oft erhobenen Lizenzgebühren bei neu angemeldeten Sorten (meist Hybriden oder gar Sorten mit Patentschutz) erbringen hohe Gewinne. Dies ist ein wesentlicher Beweggrund für die Neuzüchtung im Vergleich zu der Erhaltungszüchtung alter Sorten.

tg 2020-06-05

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