Natur & Umwelt

Genetische Vielfalt

Auf die Frage „Was ist Biodiversität?“ haben wir in unserem ersten Beitrag bereits eine Antwort zu geben versucht und sind dabei der meist vorgenommenen dreiteiligen Gliederung gefolgt: Lebensraumvielfalt – Artenvielfalt – genetische oder innerartliche Vielfalt.

Natürlich wissen wir alle, dass Arten außerhalb ihnen zusagender Lebensräume nicht dauerhaft überleben können. Hinzu kommt, dass eine Art wohl nie bzw. erst unmittelbar vor ihrem Aussterben aus nur noch einem einzigen Individuum bestehen kann. Mehrere Exemplare einer Art sind immer verschieden, und genau diese sehr häufig für uns optisch nicht wahrnehmbare Unterscheidbarkeit wird als genetische Vielfalt bezeichnet.

Die Biologen machen übrigens fast alles an dem Art-Begriff fest, auch wenn nicht jedes Individuum nach unseren menschlichen Vorstellungen arttypisch aussieht oder sich artgemäß verhält. „Unterhalb“ des Artniveaus bzw. innerhalb der Art kann man nämlich durchaus Gruppierungen von merkmalsgleichen oder Individuen mit sehr ähnlichen Eigenschaften finden, zunächst Unterarten, dann Varietäten, schließlich Formen, ehe wir zu den Populationen kommen, Rassen bei den Tieren beispielsweise und Sorten bei den Pflanzen, um die hierarchische Ordnung einzuhalten. Erst dann kommen die Einzelwesen, die Individuen.

Entsprechend ihrer tatsächlichen oder mutmaßlichen Verwandtschaft werden alle Arten in größere Gruppen, in Gattungen zusammengefasst, diese zu Familien, von denen eine oder häufiger mehrere dann eine Ordnung bilden. Die Ordnungen gehen in Klassen auf, die ihrerseits Stämme (bei Tieren) oder Abteilungen (bei Pflanzen) bilden und schließlich in Reiche münden: Das Reich der Tiere, das der Pilze und das Pflanzenreich.

Was ein Individuum ist, ob Tier, ob Pflanze oder Pilz, darüber herrscht meist Einvernehmen. Damit dürfte jedenfalls die unterste und die oberste Ebene als gesichert gelten. Über die Abgrenzung fast sämtlicher Zwischenstufen und Kategorien, von denen hier längst nicht alle aufgeführt sind, gibt es teils sehr unterschiedliche, oft sogar widerstreitende Auffassungen, die sich obendrein dem aktuellen Forschungsstand entsprechend häufig bis ständig ändern.

So können beispielsweise Gattungen oder Familien neu definiert oder gänzlich aufgelöst werden, wie es vor ein paar Jahren den Tomaten erging: Die vormals eigenständige Gattung Lycopersicon gehört nun wieder zur Gattung Solanum. Bete und Mangold, die Gänsefuß-Arten, die Garten-Melde und der Spinat, vor kurzer Zeit noch bei der Familie der Gänsefußgewächse verortet, sind jetzt aufgrund molekularer Befunde Fuchsschwanzgewächse – zuvor schon eine im System benachbarte, aber eben eigenständige Familie. Dieses Verwirrspiel in der Stabilität nur vorgaukelnden Systematik ließe sich beliebig fortsetzen.

Die Art oder Spezies ist jedenfalls – wie oben bereits angedeutet – die Grundeinheit des biologischen Systems, stark hinkend vergleichbar mit dem Längenmaß nach Kilometern, Meilen oder Werst oder mit der Temperatur, nach Belieben gemessen mittels der von den Herrn Celsius, Fahrenheit, Kelvin oder Réaumur entwickelten Skalen. Selten ist es bisher gelungen, Standards zu erzielen, an denen sich die gesamte Menschheit bereitwillig orientiert, wie inzwischen am Kilogramm als Einheit für die Masse bzw. Gewichtskraft und seit altägyptischer Zeit an der Einteilung des Tages in 24 Stunden – damals noch ab dem Sonnenaufgang gezählt. Die Natur hat ihre eigenen, sehr spezifischen Standards, die sich von uns Menschen nicht immer erkennen geschweige denn verstehen, wohl aber unterschiedlich interpretieren lassen. Insofern darf uns nicht wundern, dass über die Definition dessen, was eine Art ist oder sein soll, in der Wissenschaft, d.h. unter den Fachleuten, den Biologen, bislang noch immer keine Einigkeit erzielt werden konnte.

Dessen ungeachtet hat kein Geringerer als Carl von Linné (1707-1778) es vermocht, bis heute international geltende, zunächst einmal ganz einfach erscheinende Standards für die Benennung von Arten zu setzen, die alle zuvor gebräuchlichen, komplizierten, oft phrasenhaften Beschreibungen ablösten: Die binäre Nomenklatur, nach der jeder wissenschaftliche Name einer x-beliebigen Art aus nicht mehr, aber auch nicht weniger als drei Teilen besteht, nämlich der Gattungs-, der Artbezeichnung und dem Namen der Person oder der Autoritäten, die diesen Namen in dieser Kombination als erste vergeben und gültig publiziert haben. Species Plantarum (1753) und Systema naturae (1758) heißen diese ältesten Grundlagenwerke der Botanik und der Zoologie.

Um ein Beispiel zu bemühen: Unter dem wissenschaftlichen Namen Daucus carota L., im erstgenannten Werk auf Seite 242 zu finden, versteht man weltweit, was im deutschsprachigen Raum Gartenmöhre genannt wird, Gelbe Rübe, Karotte oder eben Mohrrübe – als Art, wobei die dem Typus entsprechende Unterart (ssp.) mit ihrer Varietät (var.) und der Form (f.) carota – eben nicht die kultivierte, sondern eine Wildmöhre bezeichnet. Allein wegen ihres riesigen Verbreitungsgebietes, aber auch wegen ihrer fortwährend möglichen Kreuzung mit Kulturmöhren weist die ssp. carota in der Natur eine kaum überschaubare und schwer zu ordnende Vielgestaltigkeit auf.1)

Gut zu wissen, dass es außer der einen hier genannten gut ein Dutzend weiterer, morphologisch und geographisch abweichender Wildmöhren-Unterarten gibt.


Alle kultivierten Möhren werden einer anderen Unterart, der ssp. sativa (Hoffm.) Schübl. et Mart. zugeordnet, wobei die Herren Gustav Schübler und Georg v. Martens erst anno 1834 die von Georg Franz Hoffmann 1791 aufgestellte Varietät, die var. sativa Hoffm., in den Rang einer Unterart erhoben haben – was bis heute respektiert und anerkannt wird. Hoffmann wird so lange weiter als „Klammer-Autor“ geehrt, wie man alle Kulturmöhren als eigenes Taxon zusammenfasst, sie als mit einem gemeinsamen Namen zu bezeichnende Einheit verstehen will.

Verweilen wir noch kurz bei den Kulturmöhren und erinnern uns dabei, dass es innerhalb der Unterart noch weitere Kategorien wie Varietäten und Formen gibt, ehe wir zu den Sorten kommen. Da sollte eine weitere Gliederung der Mohrrüben nach Formen und Farben so schwer doch eigentlich nicht sein!? Leider weit gefehlt. Nur selten findet man detaillierte, wenigstens nach Sortengruppen geordnete Beschreibungen der runden, kreiselförmigen, zylindrischen oder spitzwurzeligen Rüben, bei denen man früher sogar noch einmal halblange von langen Sorten unterschied. In der 1866 erschienen „Landwirthschaftlichen Flora“ von Friedrich Georg Christoph Alefeld (1820-1872) sind bereits acht Varietäten namentlich aufgeführt. Von diesen und den weiteren, möglicherweise formal beschriebenen, in das von Linné geschaffene System übertragenen Kategorien hat sich jedenfalls keine durchsetzen und bis in unsere Tage halten können, weder die kurzen Karotten, noch die langen Mohrrüben. Viele der Sortentypen und Sorten gibt es aber noch, wenngleich nur wenige davon bei uns in den Handel kommen und damit Bekanntheit erlangen.

Nutzungsgruppen wie Futter-, Konserven-, Speise-, Suppen-, und Zucker-Möhren seien wenigstens als weiterer Gliederungsansatz erwähnt. Sogar die Verwendung der Rüben zum Färben und zur Herstellung tief dunkelvioletter Liköre ist möglich, ebenso die Extraktion eines wertvollen, technisch verwendbaren Öls aus den Samen. Man mag einwenden, dass sich diese feine Einteilung nicht lohne, dass sie absolut künstlich, rein vom Menschen abhängig sei, vielleicht sogar nur völlig willkürlich vorgenommen werden könne. Nun, da das ganze System ein künstliches, von Menschen für Menschen gemachtes ist, das die Natur zwar abbilden will, dies aber nur mit Einschränkungen kann, hat dieses Argument nicht sonderlich viel Kraft. Lohnt es denn wirklich nicht, die Objekte zu beschreiben und bei noch zu vergebenden Namen zu nennen, die man vorgibt, schützen zu wollen? Ist ein willkürlich vergebener Name, den man wissenschaftlich begründet jederzeit wieder ändern kann, da nicht besser als gar keiner?

Hier verlassen wir die innerartliche, die infraspezifische Ebene bereits wieder, die so gern als genetische Vielfalt bezeichnet wird. Der Augustinermönch Gregor Mendel (1822-1884) führte in den Jahren 1856-1865 systematische Kreuzungsversuche hauptsächlich mit Erbsen durch. Bei der statistischen Auswertung seiner Versuche über Pflanzenhybriden entdeckte er Regelmäßigkeiten, die bis heute als Mendelsche Gesetze bzw. Mendelsche Vererbungsregeln im Biologie-Unterricht behandelt werden. Zunächst aber gerieten sie wieder in Vergessenheit und wurden erst lange nach seinem Tod, im Jahre 1900 wiederentdeckt und bestätigt. Die Genetik oder Vererbungslehre hat seither eine stürmische Entwicklung genommen und neben der sogenannten Klassischen Genetik zu neuen Wissenschaftszweigen wie der Molekular-, der Populations- und der Epigenetik geführt.

Die Genetik, die Vererbungslehre oder übergreifend ausgedrückt: die Vererbungswissenschaften könnten sehr gern etwas zur Klärung der Abstammungsverhältnisse und der Wanderungen unserer Kulturmöhren beitragen, die Verwandtschaft der rezenten Sorten analysieren oder wenigstens die morphologisch-anatomischen und geographischen Befunde stützende oder korrigierende Untersuchungen zur Abgrenzung der anderen, teils bereits vor Jahrhunderten beschriebenen Unterarten von Daucus carota vornehmen. Vielleicht liegen ja zu einigen oder gar zu all diesen Fragen bereits Erkenntnisse vor? Möglicherweise sind sie in der Fachliteratur versteckt. Sehr wahrscheinlich ist das aber nicht, weil gerade drängendere, wirtschaftlich relevantere Forschungsaufträge abzuarbeiten sind. Schade eigentlich.

1) Für Fans der Wildmöhren-ssp. carota hier ihre vereinfachte Beschreibung: Pflanzen meist zweijährig, Laubblätter 2-3-fach gefiedert, behaart, im Umriss länglich bis eiförmig, meist dünn und matt, die oberen und unteren deutlich verschieden, in lange, schmale und entfernte Zipfel zerschnitten, linealisch bis lanzettlich, schlank zugespitzt und mit feiner Stachelspitze. Zipfel der unteren Laubblätter viel kürzer und dichter gedrängt als der oberen. Blüte (Juni bis September) weiß, seltener rosa, Dolden häufig mit dunkler, steriler Zentralblüte. Blühende Dolden in der Regel flach, Doldenstrahlen auch zur Fruchtreife dünn, an der Spitze stark einwärts gekrümmt.

Die reifen Fruchtdolden sind daher vogelnestartig zusammengezogen. Doldenstiele an der Spitze kaum verdickt. Abschnitte der Hüllchenblätter linealisch-pfriemlich bis lanzettlich. Frucht auf den Nebenrippen mit dicken, langen, widerhakigen Stacheln besetzt (Lupe!). Fruchtstacheln bis zum Grunde frei. Widerhakenkranz an der Spitze der Fruchtstacheln meist schwach und unvollständig ausgebildet. Pflanze ohne Gummiharz-Ausscheidungen. Wurzel dünn, oft verzweigt, holzig, aber mit typischem Möhren-Aroma. Überall im Gebiet anzutreffen.

Bitte gern mit einer mitgebrachten, knackigen Bund-Möhre aus dem Handel oder einer selbst geernteten frischen Kultur-Möhre vom Acker bzw. aus dem Garten vergleichen, aber wegen einiger ähnlicher, doch giftiger, wildwachsender Doldenblütler nur in die mitgebrachte Rübe beißen.

tg 2020-07-28

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