Natur & Umwelt

Spiele, Gefährten, Gärten, Migration

Der Weg ist das Ziel – ja wirklich? Welcher Philosoph diesen Spruch wohl geprägt und was ihn dazu bewogen haben mag? Wir werden das nie in Erfahrung bringen, wohl aber auf unsere eigenen Erfahrungen und daraus gezogene Lehren bauen. Was immer einem Abschied folgt, ist ebenso ungewiß. Sofern es ein Ziel gibt, führen meist mehrere Wege dorthin. Welchen werden wir einschlagen, und wer wird uns dabei begleiten? Wie schnell kommen wir voran und besteht die Möglichkeit, Transportmittel zu wählen? Werden wir heil ankommen und auch auf den Zwischenstationen sicher und willkommen sein? Wo wollen und wo dürfen wir am Ende bleiben? Können, müssen wir zurück oder nur weiterziehen?  

Wann immer aus bäuerlichen Verhältnissen stammende Menschen ihren Wohnort wechseln, ihre Heimat verlassen, nehmen sie etwas Vertrautes, Überlebenswichtiges mit. Sei es anläßlich einer Heirat, durch Not, Krieg und Vertreibung oder schlicht, weil sie darauf hoffen, sich andernorts ein besseres Leben aufbauen zu können, halten sie an ihren Wurzeln und an ihrem lebenden kulturellen Erbe fest. Es kann also durchaus sein, daß Migranten ein winziges Stück Land zur Bewirtschaftung mit ihren traditionellen Kulturpflanzen wichtiger finden als ein schützendes Dach über dem Kopf zu haben. Sie werden erst dann wieder heimisch und können sich nur dort sicher fühlen, wo sie auch ihre mitgebrachten Pflanzen anbauen, nutzen und als integrale Bestandteile ihrer Kultur schrittweise und über Jahre hinweg den neuen Bedingungen anpassen dürfen.  

Es ist erstaunlich, wie entwurzelte, aus ganz unterschiedlichen Kulturkreisen und Glaubensrichtungen stammende, aus nicht immer miteinander befreundeten Staaten zeitversetzt ankommende Menschen jetzt hier in Deutschland und in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander unter freiem Himmel völlig ungezwungen neue, feste und friedliche Gemeinschaften bilden, in denen sie sich trotz bestehender sprachlicher Hürden gegenseitig respektieren und bei Bedarf unterstützen. Was für eine Logik, welcher Algorithmus steckt dahinter? Ändert sich der Eindruck bei genauerem Hinschauen etwa? Der anfangs vielleicht nur mit Absperrband eingefriedete Garten mit seiner zunächst provisorisch aus Kisten und Brettern zusammengenagelten Hütte und dem aus alten Fenstern gezimmerten Gewächshaus wird schnell zum heimlichen Haupt-Wohnsitz, zur eigentlichen neuen Heimat. Hierarchien existieren unter den Nachbarn nicht. Bestimmte, der eigenen Kultur widersprechende deutsche Vorschriften werden geschickt umgangen. Muß Bauerwartungsland plötzlich geräumt werden, im ungünstigsten Fall während der Vegetationsperiode, also mitten im Jahr, findet sich oft eine nahe gelegene Brachfläche, die zügig in einen neuen temporären Garten verwandelt und bis zur nächsten Planungsvertreibung genutzt wird. Wohl bemerkt, hier handelt es sich nicht um die andernorts detailliert beschriebenen Internationalen oder Gemeinschaftsgärten, Solidarischen Landwirtschaften oder Flächen in Kleingartenanlagen.

(die Fotos entstanden 1998-2004)

Die Produktivität dieser Gärten, die erwirtschafteten Erträge sind mitunter unglaublich reich und vielfältig. Sie dienen auch, aber offenbar nicht nur dem Eigenbedarf, der Subsistenz. Die meist aus trockenwarmen Regionen stammenden, teils exotisch anmutenden Sorten gedeihen hier fast ohne zusätzliche Bewässerung, und für den im ungeschützten Freiland nicht erfüllbaren Wärmebedarf eröffnet sich ein breites Experimentierfeld, in dessen Ergebnis auch eine Anpassung der mitgebrachten Sämereien an die lokalen Bedingungen stehen kann. Eine seit Jahrzehnten an unzähligen Orten, z.B. im Rheinland und in Hessen parallel durchgeführte sorgfältige Selektion auf Frühzeitigkeit hat beispielsweise bei Paprika zu freilandtauglichen Pflanzen geführt, die auch in kühleren und feuchteren Jahren bzw. in nördlichen Regionen sicher ausreifen. Dieses Saatgut wird weiter vermehrt, verschenkt und getauscht. Durch die spontane Kreuzung in benachbarten Gärten gedeihender Sorten entsteht überdies neue Vielfalt, die sorgfältig und unvoreingenommen über Jahre hinweg mit der bereits vorhandenen verglichen wird: Ertragssicherheit, Aroma und Geschmack werden höher bewertet als die Form der Früchte und ihre Färbung. Variabilität wird toleriert, ja sogar gefördert. Dieses Herangehen ist auch bei anderen Gemüsearten zu beobachten.

(1998- 2004)
(2007)

Für teure Mauern oder schmiedeeiserne Zäune, für ausgedehnte Rasenflächen und imposante Koniferen gibt es hier weder Platz noch Bedarf. „Migrantengärten“ entfalten ihre ureigene, uns fremde Ästhetik direkt vor unseren Augen, finden aber unsererseits nur selten Beachtung. Hier wird jeder Fußbreit Boden ganzjährig intensiv genutzt. Mischkulturen sind die Regel, ebenso eine gut durchdachte, vielgliedrige Fruchtfolge. An Stangen oder eigens dafür gebauten Gerüsten, an Mauern und Zäunen, aber auch zwischen einzeln stehenden Obstbäumen finden an Schnüren oder Netzen gezogene Erbsen Halt, Feuer- und Stangenbohnen, Chayoten, Gurken, Kalebassen, Kürbisse, Reben und Schwammgurken. In den durch schmale Fußpfade voneinander getrennten Beeten blühen einzelne Samenträger frei ab: Bete, Kohl, Porree, Salate, Zwiebeln. In Deutschland nur noch selten kultivierte Leguminosen wie Dicke Bohnen und Kichererbsen sind hier ebenso zu finden wie eine Vielzahl wenig bekannter Gemüse, darunter Elefantenknoblauch, Gartenmelde und Wasserspinat (auf trockenem, unbewässertem Boden!). In „unserem“ Alltag bisher wenig gebräuchliche Kräuter wie Bockshornklee, Speise-Chrysantheme und Shiso gedeihen prächtig. Hinzu kommen in der alten Heimat wild gesammelte Pflanzen, die in der neuen erst in Kultur genommen werden, u.a. Byzantiner Kälberkropf und Orientalischer Rauhling. Der Mais (farbiges Popcorn und bunter Zuckermais) darf nicht fehlen, darunter auch ein hochwachsender „Kleb-Mais“ mit rein weißen, milchigen Körnern, der aus Vietnam stammt und nun hier wie dort als Reis-Ersatz dient. Wenigstens am Rande sei erwähnt, daß kunstfertige Gärtner auch beliebte heimische Stein- und Kernobstsorten auf hiesige Bäume veredeln und sogar vermeintlich winterhärtere Oliven pflanzen als hier im Handel erhältlich sind. Die sich leicht bewurzelnden ein- bis zweijährigen Triebe von Reben werden später als wurzelechte Tafeltrauben geschätzt, andere wegen ihrer Blätter gepflanzt, die zu Dolma bzw. Dolmeh verarbeitet werden, kleinen, mit unterschiedlichen Füllungen versehenen Rouladen. Diese Nutzung und dafür geeignete Sorten gab es in Deutschland früher nicht.

(1998-2004)
(2018)
2009
2007
2010
2018

Das gegenteilige, eher unerfreuliche Kapitel dieser Geschichte betrifft das Verbot des Anbaus bestimmter für die Ernährung, Kultur und Tradition unentbehrlicher Pflanzen. Nach der Entdeckung Amerikas gelang den Spaniern die Unterwerfung und Dezimierung der „indianischen“ Ureinwohner u.a. durch die gewaltsame Zerstörung von deren Feldern und damit ihren Lebensgrundlagen, also durch erzwungenen Hunger. Wer nun meint, die Menschheit sei inzwischen über eine derart brutale Vorgehensweise erhaben und darüber hinausgewachsen, irrt leider.

Die arrogante, künstliche Überbewertung der eigenen Herkunft, Regeln und Umgangsformen beraubt ihre Träger schon beim Erstkontakt mit anderen Kulturen bzw. gesellschaftlichen Schichten manch interessanter Erfahrung und bereichernder Perspektive. Sie erschwert aber auch eine Verständigung auf Augenhöhe und verhindert so ein Gelingen der Integration. Verlustängsten und einem drohenden sozialen Abstieg wird mit allen Mitteln zu begegnen versucht. Untrügliche Anzeichen gilt es unauffällig zu kaschieren. Offenheit besteht jedoch meist bei der Wahrnehmung von Aufstiegschancen, auch wenn diese bei genauerem Hinschauen nicht selten auf Kosten anderer gehen. Einmal gescheitert, möchte man die Karten nur zu gern neu mischen, die gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen beim nächsten Mal in einer ähnlichen Situation vorteilhafter einsetzen. Gibt es eigentlich Spiele, in denen das Aufeinandertreffen und der friedliche Umgang sehr unterschiedlicher Kulturen miteinander erlernt und geübt werden kann, also von Kulturen, die nicht die gleichen Werte teilen und die ganz andere Verhaltensnormen entwickelt haben als wir?

Für viele Menschen, vor allem Kinder, ist es ein mehr oder weniger beliebtes Gesellschaftsspiel, vier kleine Figuren auf einem quadratischen Plan vorgezeichnete Schritte in einer vom Zufallswurf gesteuerten Geschwindigkeit vorwärts zu bewegen. Dabei gilt es, die ebenfalls je vier andersfarbigen Figuren möglichst vieler Mitspieler recht oft und – wenn es geht – erst kurz vor dem Ziel aus ihrer Bahn zu werfen, selbst aber möglichst selten an den Anfang zurückgesetzt zu werden. Haben die eigenen Spielfiguren alle finalen Plätze auf dem Brett als erste eingenommen, darf man sich kurz freuen und dann langweilen, bis auch der letzte Mitspieler das ebenfalls geschafft hat oder stört gar alle anderen mit Erfolg, etwa beim rückwärtigen Ziehen der eigenen Figuren auf die Ausgangsposition. Ehe dieses Spiel aus Gründen der political correctness oder wegen seines zweifelhaften Einflusses auf die soziale Kompetenz künftiger Generationen vom Markt genommen bzw. durch eine Anpassung der Regeln an unsere moderne Gesellschaft völlig verfremdet wird und dazu einen didaktisch weniger eindimensionalen Namen erhält, ziehe ich noch schnell meinen Hut vor Josef Friedrich Schmidt und seiner um 1910 geschaffenen Urfassung mit all den strategischen und dem Zeitgeist geschuldeten Abwandlungen, die diese geniale gesellschaftliche Abstraktion seither erfahren hat. Kranke und Invaliden des 1. Weltkriegs gehören übrigens zu den ersten leidenschaftlichen Fans. Kinder hingegen brauchen meist etwas Zeit und Gewöhnung, um sich mit dieser Spielidee anzufreunden.

Im wirklichen Leben gehen Menschen und Länder ihre eigenen, verschlungenen, nicht offenkundig vorbestimmten und ausgetretenen Wege. In eine x-beliebige Zeit hineingeboren, entwickeln sie sich individuell, doch stets im Rahmen bestimmter Vorgaben und Möglichkeiten in eine unbekannte, noch nie dagewesene Zukunft. Aus ländlich geprägten Bauernkindern werden naturferne Stadtbewohner, aus Agrarstaaten bei ungestörter Entwicklung irgendwann Industrienationen. Dann reicht wegen des Wachstums der Städte und der Bevölkerungszunahme die Subsistenzlandwirtschaft zur vollständigen Versorgung der eigenen Bevölkerung mit Lebensmitteln und anderen Gütern nicht mehr aus. Die wechselseitige Abhängigkeit von Importen nimmt zu, ebenso der Rohstoffbedarf und Energiehunger der Gesellschaft. Nehmen wir Deutschland als Beispiel. Der Raubbau an der Natur, ihre Verschmutzung und Zerstörung, die ungebremste Zerschneidung wertvoller Lebensräume führt bereits ab den „goldenen“ 1920er Jahren zu einer Gegenbewegung. Zuerst kommt es in Preußen zur Einrichtung von Naturschutzgebieten, von denen es heute in der gesamten Bundesrepublik mehr als 8.800 gibt. Ihre zersplitterten Flächen betragen mit 1,3 Millionen Hektar knapp 4 % des gesamten Territoriums. Hinweisschilder dienen der Begrenzung und zur Information, können aber trotz eingerichteter Puffer um die Kernzonen herum die Einflüsse der Umgebung nicht aufhalten. Eine statische Konservierung der Natur mit ihrer Artenvielfalt ist daher trotz ihres unbestrittenen Wertes und auch mittels aller in bester Absicht und für viel Geld durchgeführten naturschutzfachlichen Maßnahmen in der Praxis schlechterdings unmöglich. Veränderungen sind und bleiben allgegenwärtig, wie jedes sorgfältig durchgeführte Monitoring schützenswerter Arten und Lebensräume beweist.  

Vom Eigeninteresse geleitete Güterabwägungen und die Priorisierung von Maßnahmen gehen fast immer zu Lasten der Natur und Umwelt. In den Ballungsgebieten erfolgen sie kaum verhohlen auf Kosten der raren Grünflächen: Stadtnahe Äcker, Parkanlagen, Restwälder und Gärten erwecken Begehrlichkeiten zur Bebauung und Versiegelung, zur Ausweisung von Gewerbegebieten, zur Anlage neuer und zur Verbreiterung bestehender Straßen oder zur Schaffung von Parkplätzen, zum Aufstocken der Geschoßzahlen und zur Lückenbebauung – insgesamt zu einer immer stärkeren Verdichtung, die oft genug gegen den Widerstand der Altanwohner durchgesetzt wird.  

In Deutschland beginnt die Industrialisierung Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts und schreitet bis heute ungebremst fort. Traditionelle Gewerbe und Produktionsweisen verlieren an Bedeutung, historische Produktionsstätten veröden und neue entstehen. Von den wirklich alten Berufen überlebt oft nur die auf den Familiennamen übertragene Bezeichnung. Unübersehbare Zeugen einstigen Wirtschaftens sind die sich selbst überlassenen, allmählich wieder begrünenden Abraum-Halden und die Industriebrachen. Gesellschaftliche Umbrüche überschlagen sich, Landflucht setzt ein, Grenzertragsböden werden nicht mehr bewirtschaftet und fallen brach; es kommt wiederholt zu Unruhen, zur massenhaften Verelendung bestimmter Bevölkerungsgruppen und zu Wellen vermehrter Ein- und Auswanderung. Die zunächst kleinen, familiär geführten Betriebe werden immer größer, konkurrieren gegeneinander, verschmelzen sodann zu größeren und gehen schließlich in multinationalen Konzernen auf. Mit der Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 verlieren die deutschen Kleinstaaten an Bedeutung. Nach dem zweiten Weltkrieg entstehen auf deutschem Boden und in Österreich zwar Bundesländer, doch heute schickt sich die Europäische Union bereits an, die Nationalstaatlichkeit ganz aufzulösen. Eines Tages wird es vielleicht eine Weltregierung geben – und danach keine Begehrlichkeiten, keine Konflikte mehr?  

Auf höchster politischer Ebene und auf Druck einer starken Agrar-Lobby wird gegenwärtig an Gesetzen gearbeitet, die jede Form von Subsistenzlandwirtschaft kriminalisieren, die den Austausch von Saatgut und Pflanzen zwischen Privatpersonen und selbst innerhalb von Vereinen komplett unterbinden sollen. Ist es nicht geradezu lächerlich, daß z.B. bestimmte im Alltag benötigte Produkte aus uralten, traditionell genutzten Kulturpflanzen wie Hanf und Mohn wegen der hierzulande noch immer geltenden strikten Anbauverbote hauptsächlich aus EU-Nachbarländern importiert werden müssen? Darunter sind Hanf- und Mohnsamen zur menschlichen Ernährung und als Futtermittel, aus diesen Pflanzen gewonnene Öle, Fasern für Stoffe und Seile, Werg, Mohnkapseln für die Floristik etc. – was für eine merkwürdige, nur Industrieprodukte wie Schnaps, Tabletten und Zigaretten legitimierende Drogenpolitik! Daß Hanf seit mindestens 5.000 Jahren angebaut wird, die wohl längsten und stabilsten Naturfasern liefert, den größten Biomassezuwachs aller Kulturpflanzen aufweist, Unkräuter massiv unterdrückt und als einer der nachhaltigsten Rohstoffe u.a. für die Papierherstellung dient, sei nur am Rande erwähnt. Wer weiß schon, daß die meisten Gutenberg-Bibeln einst auf Hanfpapier gedruckt wurden?

Wie wir sehen, gibt es sehr unterschiedliche Verwendungsmöglichkeiten für „Drogenpflanzen“, und es geschieht ihnen Unrecht, wenn sie wegen eines zwar illegalen, aber durchaus möglichen Mißbrauchs ausschließlich in dieser Kategorie verortet werden. Bis einschließlich 1989 prägten in Ostdeutschland mancherorts noch ausgedehnte, wunderschön blühende Mohnfelder das Landschaftsbild. Hanfstreifen wurden u.a. in der Züchtung gesät, um nach Süden offene, im Windschatten liegende Wärmeinseln und Isolierstandorte zu schaffen. Mißbrauchsfälle sind keine bekannt. Dennoch greift seit 1990 das gesamtdeutsch geltende Anbauverbot, und natürlich durfte nun auch ein in der Sortenzulassung befindlicher, niedrig und kompakt wachsender Zierhanf mit goldgrünem Laub nicht mehr in den Handel gelangen. Sollte der legale Anbau je wieder möglich sein, ist garantiert kein keimfähiges Saatgut dieses noch namenlosen Zuchtstammes mehr verfügbar, und auch beim Mohn wird sich kein Landwirt mehr an die Anbaupraxis, die Saatzeiten und Abstände, den Nährstoffbedarf, die erforderlichen Pflanzenschutzmaßnahmen und die Erntetechnik erinnern können. Die speziellen Maschinen und Gerätschaften sind längst verschrottet. Über Jahrzehnte erfolgte keine erhaltungszüchterische Bearbeitung der traditionellen, überwiegend blausamigen deutschen Sorten wie ‘Eckendorfer Blausamiger Schließmohn‘, ‘Erbachshofer Blaumohn‘ oder ‘Mahndorfer Blausamiger Schließmohn‘. Verloren gegangenen sind auch die Neuzüchtungen aus DDR-Zeiten wie ‘Libra‘, ‘Neuga‘ oder ‘Pilot‘, erhalten geblieben nur zwei extrem morphinarme Sorten, eine für den Überwinterungsanbau und eine für die Saat im zeitigen Frühjahr. In Nachbarländern wie Schweden, Polen, Tschechien, Österreich, Frankreich, den Niederlanden und Dänemark gibt es diese Einschränkungen nicht. Kurioserweise sind aber in Deutschland weiterhin Liebhabersorten des Schlafmohns als Zierpflanzen im Handel, die gefüllt blühenden Päonienmohne beispielsweise, ‘Henne und Kücken‘ (mit einer großen, zentralen und einem Kranz aus vielen kleinen Kapseln), Federmohne mit geschlitzten Blütenblättern und einige andere mehr.

Unsere Welt verliert zusehends an Komplexität, an Vitalität und Vielfalt. Jeder weise Spruch, ein jedes Egoismus und Zwist zum Kult stilisierende Brettspiel kann nur extrem stark vereinfachend und abstrahierend abbilden, was uns Menschen ein Leben lang umtreibt. Das menschliche Miteinander unterliegt auch in der Realität immer öfter dem Gegeneinander sich verhärtender Fronten. Viele traditionelle Brettspiele wie Backgammon, Halma, Mühle, Schach und erst recht die neueren, wie Monopoly und die computersimuliert kalt berechnende Künstliche Intelligenz, sie kennen keine Diplomatie, kein Erbarmen, keine Gnade, kein Verzeihen. Nur zu leicht und anfangs meist unbemerkt schleichen sich die im Spiel erlernten und trainierten empathielosen Verhaltensweisen in unseren Alltag, in unseren Umgang miteinander ein, in unser Konsumverhalten, in Verwaltungsabläufe, in die Programmierung. Welche Begegnungen, gesellschaftlichen Normen, Bücher, Filme prägen uns? Wie wirken sie sich aus? Die beängstigende Entwicklung hin zu einem Kontrollverlust über das eigene Leben vermag keine Überwachungskamera aufzuzeichnen. Wann und wo fing das alles eigentlich an?

Die beiden ersten von Menschen gezeugten Geschwister in der Bibel, den älteren Ackermann und den jüngeren Schäfer, trennt mehr als sie miteinander verbindet. Die Geschichte des Brudermordes erzählt von dem Riss, der durch die Menschheit geht, seit es Hirten und Ackerbauern gibt. Letztere beginnen, sich Grund und Boden anzueignen. Mit dem Bestreben, Eigentum und Besitz zu schützen, zieht die Furcht vor „zigeunernden“ Völkern in die Geschichte ein: Einbruchssichere Wohnungen und Häuser, befestigte Dörfer, Wehrkirchen, Festungen, von Mauern umgebene Städte, Staaten mit gesicherten Grenzen, die Angst vor der Landung außerirdischer, überlegener Kulturen. Wer gibt uns Sesshaft gewordenen das Recht, die Welt solcherart unter uns aufzuteilen, migrierende Völker auszuschließen, ihnen die Existenzgrundlage zu entziehen?

Das dem Schachspiel entlehnte, sprichwörtliche Bauernopfer impliziert die Entwertung der Hauptaufgabe agrarer Produktivkräfte, Ackerbauern wie Kain und Hirten wie Abel gleichermaßen. Die besteht nämlich nicht in der fremdbestimmten, heroisch verbrämten Kriegführung, sondern darin, gemeinschaftlich die Ernährung einer zivilisierten Gesellschaft zu sichern, die ohne diese Bauern bzw. Landwirte nicht überlebensfähig ist. Unter der irrtümlichen Annahme gleicher Ausgangsbedingungen lernen wir spielerisch, Regeln einzuhalten, Hierarchien zu beachten, uns auf „das Wesentliche“ zu konzentrieren. Wir vermögen Strategien zu entwickeln und Konflikte so auszutragen, daß wir als Sieger aus ihnen hervortreten. Dann, nach dem Happy End geht es aber leider nicht weiter; das Spiel ist aus, der Vorhang fällt. Sobald der Abspann läuft, verlassen wir den Saal. Was alles lernen wir somit nicht, was wird uns vorenthalten? Sind Aufbau und Normalität tatsächlich langweiliger und weniger erstrebenswert als Krieg und Zerstörung? Warum und wem applaudieren wir eigentlich, wenn sich die Künstler, Autoren wie Interpreten, vor uns verneigen, nachdem sie uns kurz den Spiegel vorgehalten oder uns in die eigene Seele haben blicken lassen?

Während sich der Horizont im Laufe unseres Lebens erweitert, verändern sich die in der Kindheit noch breit angelegten Interessen, unsere Fähigkeiten, unser Einfühlungs- und unser Wahrnehmungsvermögen. Als Erwachsene sind wir Menschen inzwischen in unseren Berufen und Hobbies so konditioniert, derart hochgradig spezialisiert, daß wir mit einem vergleichsweise geringen Aufwand den höchst möglichen Wirkungsgrad erzielen, im Sport ebenso wie in der Medizin und natürlich auch beim Militär. Immer weniger Menschen werden hingegen in der Produktion gebraucht, die Heerscharen von Arbeitslosen z.B. in einer überbordenden Bürokratie und in Sicherheitsdiensten versteckt. Wer kann, rette sich in einen Garten!

(1998-2004)
(2009)

Die uns zwingend abgeforderte Leistungsbereitschaft erwarten wir auch von unseren Haustieren und von den Kulturpflanzen: Mit minimalem Input an Arbeit bzw. Zuwendung sollen sie maximale und obendrein von Boden und Wetter unabhängige, sichere Erträge liefern. Diesem unglaublichen Druck halten nur wenige Arten, Tierrassen und Pflanzensorten stand. Eine 10.000 Jahre währende Erfolgsgeschichte der Co-Evolution und Domestikation von Menschen, Tieren und Pflanzen nähert sich offenbar ihrem Ende. Die ausgestorbenen Rassen und Sorten bleiben für immer verloren, und die neuen brillieren nur noch durch Einheitlichkeit, Masse und Optik. Daran kann und wird auch die Gentechnik nichts ändern, selbst, wenn sie es denn wollte. Weltweit sind weit über 7.000 Kulturpflanzenarten bekannt, viele von ihnen mit Dutzenden, Hunderten, mitunter sogar Tausenden Sorten. Jede einzelne lohnt es, im Gebrauch kennenzulernen, sie zu erhalten und sie weiterzugeben. Zeit und Gelder dafür wären gut angelegt, denn was können wir über den konkreten Bedarf künftiger Generationen schon ahnen oder gar wissen, wenn uns über den Preis und das Verfallsdatum hinaus nicht einmal die Herkunft und Zusammensetzung unserer eigenen, täglichen Nahrung interessiert?

Domestikationssyndrome bei Pflanzen und Tieren im Zusammenhang mit der Migration genauer zu untersuchen, ist so spannend und ungeheuer bereichernd wie die Ethnobotanik schlechthin. Ausgesprochen schade, daß es weltweit kaum noch Forschungs-Einrichtungen, im deutschsprachigen Raum nicht einmal mehr neuere wissenschaftliche Bücher und Zeitschriften gibt, die einen Einstieg in diese faszinierende Thematik erleichtern.

Die Wissenschaft mag sich von den elementaren Fragen und den Grundlagen unserer Existenz immer weiter entfernen und irgendwann gänzlich abheben, unsere Ökonomie den unbeirrt ackernden und gärtnernden Menschen die gesellschaftliche Wertschätzung ihrer Leistung weiterhin verweigern, sie z.B. bei der Berechnung des Bruttoinlandsprodukts konsequent ausklammern. Jeder von einem eigenen, sorgsam gepflegten Baum gepflückte Apfel, jede selbst gezogene Mohrrübe, jeder frisch gepflückte, über den Gartenzaun verschenkte Blumenstrauß festigt die Beziehung der Menschen untereinander und die zu ihren Kulturpflanzen mehr als eine im Laden und für Geld erstandene, aufwendig verpackte Ware ähnlichen Inhalts. Die aus der erdverbundenen, schöpferischen Arbeit erwachsende, das Leben bejahende Freude spottet einer monetären Erfassung, und die mit ziemlicher Sicherheit zu erwartenden Zinsen einer steuerlichen Veranlagung.

Wie anders wäre unsere, die Menschheits-Geschichte ohne diesen tiefgreifenden Wandel und die Entwicklung der Landwirtschaft wohl verlaufen? Sind wir angesichts der gegenwärtigen Klimaveränderungen gut darauf vorbereitet, nach der Überhitzung der Atmosphäre „demnächst“ vielleicht wieder einmal eine mehrere tausend Jahre währende Kälteperiode zu überleben, eine weitere Eiszeit? Oder wird es vielleicht noch heißer, und heute dicht bewohnte Regionen veröden, werden unbewohnbar? Finden wir endlich zu mehr Respekt und Vorsicht im Umgang mit der Natur oder wollen wir ewige Zauberlehrlinge bleiben?

Die kursiven Textteile stammen aus meinem Artikel https://www.black-turtle.de/blog/von-der-entstehung-den-wandlungen-und-den-wanderungen-der-kulturpflanzen tg 2021-08-26

Der gefettete Textteil ist ein Zitat von mir aus dem Artikel „Gärten und Kulturen auf der Wanderschaft“, S. 193 in Reimers, B. (Hrsg.) Gärten und Politik – Vom Kultivieren der Erde. Oekom Verlag, 317 S.

Dr. Thomas Gladis, Berlin

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